Vor 105 Jahren: Der Schmalenseer Heinrich Hamann aus Gefangenschaft geflohen
Am 24. Januar 1920, vor 105 Jahren, meldet das Segeberger Kreis- und Tageblatt aus Schmalensee: „Aus französischer Gefangenschaft ist Sergeant H. Hamann von hier glücklich entkommen und bei den Seinen angekommen […] In 14 Tagen erreichte er glücklich die Schweizer Grenze, nachdem ein früherer Fluchtversuch mißglückt war.“
Eine Meldung, die uns aus der Rückschau einmal mehr Aufschluss darüber gibt, dass der Erste Weltkrieg für zahlreiche Menschen in Europa, Deutschland und Schmalensee nicht mit der Erklärung des Waffenstillstands beendet war. Viele Schicksale waren ungeklärt – in Schmalensee sollte die Ungewissheit, was aus Heinrich und August Stegelmann geworden war, dafür, dass man erst 1923 ein Denkmal für die Gefallenen im Dorf errichtete, auf dem beide als „vermisst“ gelten.
Von Heinrich Hamann, geboren am 17. Mai 1885 in Löhndorf, wusste man schon vor seiner Heimkehr, dass er sich in Gefangenschaft befand. So heißt es in der Zeitungsmeldung nämlich auch: „Er ist der Verfasser des Berichts über die schlechte Behandlung, den das Kreis- und Tageblatt kürzlich veröffentlichte.“
Dieser Brief sei nach ein paar weiteren Informationen zu Heinrich Hamann, von dem der Arbeitskreis Dorfgeschichte leider kein gut geeignetes Foto hat, aufgeschrieben.
Laut Meldebuch der Gemeinde Schmalensee (1949-51) kam Heinrich Hamann am 8. April 1911 nach Schmalensee. Mit Kriegsausbruch wurde er mobilisiert und im November 1914 bei Kämpfen am Yserkanal leicht am Arm verwundet und ins Lazarett Neumünster verlegt. Von dort ging es zurück an die Front. Im September 1915 wurde Heinrich Hamann, Unteroffizier im Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 265, III. Bataillon, 11. Kompanie (Preußische Verlustliste Nr. 257), nach seiner zweiten überstandenen leichten Verwundung mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Im März 1918 wurde er zum Sergeanten befördert.
Am 16. Dezember 1919 veröffentlichte das Segeberger Kreis- und Tageblatt unter der Überschrift „Die Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in Frankreich“ den Brief eines Schmalenseers. Dieser stammte von Heinrich Hamann:
„A… November, 6.15 Uhr früh, ist der übliche Morgenappell. Der Adjutant hält ihn in den Baracken ab, weil es draußen noch finster ist. Er lässt bekannt machen, dass niemand, auch zur Arbeit nicht, das Lager verlassen darf, da um 8 Uhr eine Revision der Schlafdecken stattfinden soll. Wir horchen auf. Ein jeder weiß, dass es nicht bei dieser Revision bleiben wird. Alles, was der Franzose nicht sehen darf, wird noch schnell versteckt.
Nach der Lagerzeit ist es 7.40 Uhr, als sich plötzlich die ganze Wachmannschaft ins Lager stürzt und auf die einzelnen Baracken verteilt. Mit aufgepflanztem Bajonett werden wir unter dem üblichen ‚Allez, allez!’ aus den Baracken gejagt. Draußen auf dem Hof nehmen uns der Adjutant und einige Wachtposten in Empfang und wir müssen barackenweise zu 5 Mann hintereinander antreten. Vor jeder Baracke – es gibt deren drei – steht ein Posten, niemand darf mehr herein. Das ganze Lager ist mit Posten umstellt, selbst beim Abort steht ein Posten.
Wie eine Herde Vieh, die zusammengetrieben ist, stehen wir da und harren der Dinge, die da kommen sollen. Der Wachtkorporal ruft nun aus jeder Gruppe einen Mann heraus und die bekannte Leibesvisitation beginnt, während in den Baracken ein heftiges Hämmern und Klopfen anhebt.
Der Lagerkommandant, ein junger Leutnant, der als Korporal in deutscher Gefangenschaft gewesen ist, lässt uns mitteilen, dass nur eine Durchsuchung nach scharfen Werkzeugen und zwei Revolvern, die im Lager sein sollen, stattfindet. Der Lagerfeldwebel, der beim Lagerkommandanten vorstellig wird, weil eine Durchsuchung der Lagerräume ohne Beisein der Barackenführer unzulässig ist, wird mit den Worten abgewiesen, die Franzosen seien keine Spitzbuben. Infolgedessen konnten die Franzosen, ein Sergeant und einige Posten, in den Baracken hausen, wie es ihnen beliebte.
Es war 10 Uhr, als die Durchsuchung beendet war, und wir wieder in die Räume zurückkehren konnten. Aber in welchem Zustande fanden wir die Baracken wieder! Es ist kaum zu beschreiben. Unsere Habseligkeiten waren durcheinander geworfen. Kisten und sonstige Behälter, ob verschlossen oder unverschlossen, waren zertrümmert oder aufgebrochen, die Sachen durchwühlt. Und nun das Gemeinste: Als jeder seine Habseligkeiten wieder zusammen gesucht hatte, stellte sich heraus, dass die Angehörigen der ‚Grande Nation’ den armen ‚P.G.’ nicht nur Kleidungsstücke, sondern auch Ess- und Rauchwaren, Kaffee, Schokolade, Zigarren, Zigaretten und Tabak geraubt hatten.
Eine sofortige Reklamation der fehlenden Sachen war erfolglos. Und das, nachdem seit Jahresfrist die Waffen ruhen und vor Monaten der Friede von Versailles unterzeichnet ist. Gibt es denn keine Regierung in Deutschland? Hat man kein Mittel, die Kriegsgefangenen, von denen schon viele im 6. Jahr hinter dem Stacheldraht sitzen, zu befreien?...“
Der letzte Absatz lässt aufhorchen: Kritik an der deutschen Regierung, die es nicht vermag, die Gefangenen zurückzuholen? Wohl eher Verzweiflung darüber, dass man auch vor Weihnachten 1919 von den Franzosen zurückgehalten wird. Von Hamann wissen wir, dass seine politische Orientierung, seine Ansichten, nicht mit der (konservativen) Mehrheit der Schmalenseer übereinstimmen sollten:
Seit 1911 Angehöriger der Freiwilligen Feuerwehr, wurde er 1925 aus dieser ausgeschlossen. Das Ehrengericht hatte ihm abfällige Äußerungen über die Institution Feuerwehr (und ihr weiter konservativ-militaristisch angehauchtes Auftreten) sowie einzelne Mitglieder vorgeworfen. Es ist anzunehmen, dass er in der jungen Weimarer Republik, vielleicht sogar schon vor dem Krieg, den Weg zur Sozialdemokratie gefunden hatte.
Nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur und der Besetzung Holsteins durch britische Truppen war er es, der bei den Behörden dagegen intervenierte, dass mit Willy Harder ein vermeintlicher Vertreter des alten Systems (der Bürgermeister von 1924 bis 1945 hieß Heinrich Harder – das war der Aufhänger im Brief, der im Landesarchiv Schleswig liegt) eingesetzt worden sei. Hamann war nun nachweislich SPD-Mitglied und für diese von 1949 bis 1955 Bürgermeister in Schmalensee. Er initiierte im November 1949 die Gründung des Sparklubs und war von 1951 bis 1955 Leiter der Schmalenseer Stützpunktgruppe des Reichsbundes (heute Sozialverband Deutschland).
Heinrich Hamann, eine offensichtlich streitbare aber für die Dorfgeschichte äußerst interessante Persönlichkeit, starb am 27. März 1965. Der Arbeitskreis Dorfgeschichte ist auf der Suche nach Fotos, Dokumenten und Informationen zu diesem Mann, der einige historisch brisante Abschnitte der Dorfgeschichte mitgestaltet hat.
Bild zur Meldung: SKTB-Meldung zur Flucht Heinrich Hamanns vom 25.01.1920